Aufsichtsrat muss sich selbst belasten

14.11.2018

Aufsichtsräte müssen Schadensersatzansprüche gegen Vorstandsmitglieder auch dann verfolgen, wenn dadurch zugleich ihre eigene Pflichtverletzung offenkundig wird und damit auch eine Aufsichtsratshaftung droht. Dies hat der BGH mit dem kürzlich veröffentlichten Urteil vom 18. September 2018 (II ZR 152/17) entschieden.

Zweistufige Prüfung nach ARAG/Garmenbeck

Seit der ARAG/Garmenbeck-Entscheidung (II ZR 175/95) steht das Pflichtenprogramm des Aufsichtsrats bei der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen der Aktiengesellschaft gegen Vorstandsmitglieder fest:

 

Der Aufsichtsrat muss auf erster Stufe prüfen, ob die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen eines Ersatzanspruchs vorliegen. Außerdem muss er das Prozessrisiko und die Durchsetzbarkeit des Anspruchs bewerten. Gelangt der Aufsichtsrat zu dem Ergebnis, dass die Verfolgung von Ersatzansprüchen Aussicht auf Erfolg hat, muss er auf der zweiten Stufe entscheiden, ob er hiervon wegen entgegenstehender gewichtiger Interessen der Gesellschaft ausnahmsweise absehen sollte. Dabei muss die Verfolgung die Regel sein. Die Nichtverfolgung bedarf dagegen einer besonderen Rechtfertigung. Bei der Entscheidung steht dem Aufsichtsrat grundsätzlich kein unternehmerisches Ermessen zu. Verletzt der Aufsichtsrat seine Verfolgungspflicht, macht er sich selbst gegenüber der Gesellschaft schadensersatzpflichtig.

Aufsichtsratshaftung wegen unterlassener Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstand

Mit der Entscheidung vom 18. September 2018 hat der BGH diese Grundsätze bestätigt und fortentwickelt. Die Besonderheit des Falls lag darin, dass der Sachverhalt, der die Schadensersatzpflicht des Vorstands begründete, zugleich eine Pflichtverletzung des schließlich verklagten Aufsichtsratsmitglieds enthielt: Dieses Mitglied, das zugleich wesentlich beteiligter Aktionär war, erhielt im Zuge verschiedener Transaktionen Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen. Letztere waren als verbotene Einlagenrückgewähr zu werten. Deswegen war der Vorstand, der die Aktiengesellschaft bei den Transaktionen vertreten hatte, dieser gegenüber schadensersatzpflichtig.

 

Aber auch das beklagte Aufsichtsratsmitglied schuldete der Gesellschaft Schadensersatz. Denn es hatte die Zahlungen nicht verhindert und seine Überwachungspflicht verletzt. Zudem war es in seiner Eigenschaft als Aktionär zur Rückzahlung verpflichtet. Allerdings waren diese Ansprüche der Gesellschaft nach fünf Jahren allesamt verjährt. Daher hatte der BGH zu entscheiden, ob es unter diesen Umständen noch zu einer Aufsichtsratshaftung kommen konnte. Dies war nur der Fall, wenn das Aufsichtsratsmitglied eine weitere ihrerseits nicht verjährte Pflichtverletzung begangen hatte, indem es die Ersatzansprüche gegen den Vorstand nicht verfolgte und schließlich verjähren ließ.

BGH bejaht Aufsichtsratshaftung

Der BGH hat diese Frage bejaht: Die Pflicht des Aufsichtsrats zur Prüfung und Verfolgung von Schadensersatzansprüchen gegen den Vorstand sei eine eigenständige Pflicht, die von seiner vorbeugenden Pflicht, die Rückzahlung der Einlagen zu verhindern, zu unterscheiden sei. Daher führe die Verletzung der Verfolgungspflicht zu einem selbständig verjährenden Schadensersatzanspruch der Aktiengesellschaft gegen den Aufsichtsrat. Der durch die Nichtverfolgung verursachte Schaden entstehe erst, wenn die Ersatzansprüche gegen den Vorstand verjährt und deshalb nicht mehr durchsetzbar seien. Das bedeutet, dass erst mit diesem Zeitpunkt die Verjährungsfrist für den daraus folgenden Ersatzanspruch gegen den Aufsichtsrat zu laufen begann, weswegen dieser noch nicht verjährt war.

 

Der BGH stellt außerdem klar, dass das Aufsichtsratsmitglied von der Verfolgungspflicht nicht deshalb befreit war, weil es damit seine vorherigen Pflichtverletzungen – die Entgegennahme bzw. Nichtverhinderung der verbotenen Zahlungen – hätte aufdecken müssen. Der BGH leitet dies aus der besonderen Pflichtenstellung und Funktion des Aufsichtsrats ab. Diese überwiege das persönliche Interesse des einzelnen Mitglieds, sich nicht selbst bezichtigen zu müssen.

Folgen für die Praxis

Was bedeutet diese bemerkenswerte Entscheidung für die Praxis? Zunächst unterstreicht sie den Stellenwert des Aufsichtsrats und dessen Aufgabe, Ersatzansprüche gegen den Vorstand zu verfolgen. Des Weiteren müssen Mandatsträger wissen, dass sie bei Pflichtverletzungen des Vorstands faktisch doppelt so lange haften können wie der Vorstand selbst. Im Ergebnis sind dies zehn Jahre, bei börsennotierten Aktiengesellschaften und Banken sogar 20 Jahre. Diese Erkenntnis ist zwar, wie etwa der Fall Arcandor (LG Essen vom 25.4.2012 – 41 O 45/10) zeigt, nicht ganz neu. Das Urteil des BGH bestätigt dies Ansicht nun aber höchstrichterlich. Aufsichtsräte sollten sich daher mit der Frage der Anspruchsverfolgung rechtzeitig vor Eintritt der Verjährung (noch einmal) abschließend befassen.