Bundesfinanzhof hält Höhe von Aussetzungszinsen für verfassungswidrig

04.09.2024 | FGS Blog

Nach Auffassung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist der gesetzliche Zinssatz von 6 % p. a. für sogenannte Aussetzungszinsen verfassungswidrig. Er hat daher mit Beschluss vom 8. Mai 2024 (VIII R 9/23) das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) angerufen.

Steuerpflichtige können während eines Einspruchs- oder Klageverfahrens die Aussetzung der Vollziehung beantragen. Der Steuerpflichtige muss die streitige Steuerschuld in diesem Fall erst nach Ende des Rechtsbehelfsverfahrens zahlen. Unterliegt der Steuerpflichtige jedoch schlussendlich, hat er nicht nur die streitige Steuerschuld nachzuzahlen, sondern zusätzlich noch Zinsen in Höhe von jährlich 6 % zu entrichten (§§ 237, 238 Abs. 1 S. 1 AO). 

Die Frage, ob dieser Zinssatz nicht zu hoch bemessen ist, besteht seit der Niedrigzinsphase ab dem Jahr 2008. Bereits in den Jahren 2018 (BFH, Beschluss vom 3. September 2018 – VIII B 15/18) und 2019 (BFH, Beschluss vom 4. Juli 2019 – VIII B 128/18) hat der VIII. Senat des BFH im Rahmen von Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz erhebliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen geäußert. Hinsichtlich der Zinsen nach einer verspäteten Steuerfestsetzung (§ 233a AO) hat das Bundesverfassungsgericht schon 2021 (BVerfG, Beschluss vom 8. Juli 2021 – 1 BvR 2237/14 u.a.) entschieden, dass aufgrund des niedrigen Zinsniveaus 6 % Zinsen p. a. zu hoch bemessen sind. Die weiteren Teilverzinsungstatbestände – u.  a. die Aussetzungszinsen nach § 237 AO – wurden vom Bundesverfassungsgericht mit Rücksicht auf das Bedürfnis einer eigenständigen verfassungsrechtlichen Wertung dabei jedoch ausgeklammert. Der Gesetzgeber passte daraufhin auch nur die Zinsen nach § 233a AO ab dem 1. Januar 2019 auf jährlich 1,8 % an. Eine Anpassung der Aussetzungszinsen erfolgte nicht. 

Beschluss des BFH (Beschluss vom 8. Mai 2024 – VIII R 9/23)

Nachdem der VIII. Senat des BFH bisher nur im einstweiligen Rechtsschutz Stellung zu der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Aussetzungszinsen bezogen hatte, musste er nun erstmalig in einem Hauptsacheverfahren über die Verfassungsmäßigkeit entscheiden.

Der VIII. Senat des BFH hat dem Bundesverfassungsgericht nun die Frage vorgelegt, ob die Höhe der Aussetzungszinsen im Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 15. April 2021 mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Die zeitliche Beschränkung resultiert daraus, dass das Revisionsverfahren nur diesen Zinszeitraum betrifft. Aus den Entscheidungsgründen ergeben sich jedoch Anhaltspunkte dafür, dass auch über diesen Zeitraum hinaus von einer Verfassungswidrigkeit auszugehen ist.

Der Senat hält den Zinssatz von 6 % p. a. für die Zinsen bei Aussetzung der Vollziehung im maßgeblichen Zeitraum für mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar. Dies begründet er im Wesentlichen mit zwei Punkten:

  • Innerhalb der Gruppe der Steuerpflichtigen, die ein endgültig erfolgloses Rechtsbehelfsverfahren betrieben haben, komme es wegen der Höhe der Zinsen zu einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung zwischen denjenigen, die die Steuer zunächst nicht gezahlt haben und denjenigen, die die Steuer gezahlt haben. Ein Zinssatz von 6 % p. a. in der bis zum Jahr 2022 andauernden strukturellen Niedrigzinsphase sei nicht erforderlich, um den Liquiditätsvorteil abzuschöpfen und wäre darüber hinaus auch nicht verhältnismäßig. Zur Überzeugung des Senats sei die Aussetzung der Vollziehung aus wirtschaftlichen Gründen vielfach nicht mehr in Anspruch genommen worden, auch wenn die Voraussetzungen dafür vorgelegen hätten. 
  • Darüber hinaus sieht der Senat eine verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung in der seit dem 1. Januar 2019 unverändert bestehenden „Zinssatzspreizung“ aufgrund der unterschiedlichen Höhe der Aussetzungszinsen (6 % p. a.) im Vergleich zu den Nachzahlungszinsen (1,8 % p. a.). 

Die vom VIII. Senat des BFH angenommene Verfassungswidrigkeit ist unseres Erachtens nicht nur auf den Zeitraum vom 1. Januar 2019 bis zum 15. April 2021 beschränkt, sondern erstreckt sich hinsichtlich der seit dem 1. Januar 2019 unverändert bestehenden „Zinssatzspreizung“ jedenfalls auch auf den Zeitraum danach.  Mit Blick auf die vom VIII. Senat des BFH herausgearbeitete Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Steuerpflichtigen, die ein endgültig erfolgloses Rechtsbehelfsverfahren betrieben haben, erscheint es ebenso wenig ausgeschlossen, auch den Zeitraum vor dem 1. Januar 2019 als verfassungsrechtlich bedenklich einzustufen. Zumal das Bundesverfassungsgericht einem Zinssatz von 6 % p. a. bereits für Zeiträume ab dem 1. Januar 2014 die Verfassungswidrigkeit attestiert hat und die (haushalterischen) Gründe, die das Bundesverfassungsgericht dazu veranlasst hat, diesen (verfassungswidrigen) Zinssatz hinsichtlich der Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen ausnahmsweise fortgelten zu lassen, nicht zwingend auf die Aussetzungszinsen übertragbar sind.

Wie geht es weiter?

Das Verfahren ist beim Bundesverfassungsgericht unter dem Aktenzeichen 1 BvL 8/24 anhängig. Mit einer zeitnahen Entscheidung dürfte jedoch nicht zu rechnen sein. Nur zum Vergleich: Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Nachzahlungszinsen war ca. sieben Jahre beim Bundesverfassungsgericht anhängig (dort allerdings aufgrund von Verfassungsbeschwerden). 

Folgen für die Praxis

Solange die Finanzbehörden die Aussetzungszinsen noch nicht vorläufig festsetzen, kann der Fall durch fristgerechten Einspruch offengehalten werden. Mit Rücksicht auf das zwischenzeitlich beim Bundesverfassungsgericht unter Az. 1 BvL 8/24 anhängige Verfahren kommt ein Ruhen des Einspruchsverfahrens nach § 363 Abs. 2 Satz 2 AO jedenfalls insoweit in Betracht, wie Verzinsungszeiträume vom 1. Januar 2019 bis zum 15. April 2021 betroffen sind. Für danach liegende Zeiträume sollte zumindest eine Verfahrensruhe nach § 363 Abs. 2 Satz 1 AO erwogen werden. Zumal sich das Bundesverfassungsgericht im Beschluss zur Verzinsung nach § 233a AO seinerzeit auch nicht auf den verfahrensgegenständlichen Zeitraum beschränkt hatte. Unter dem Gesichtspunkt der Liquiditätsbelastung kommt außerdem ein Antrag auf Aussetzung der Vollziehung in Betracht. Zusätzliche Aussetzungszinsen fallen hierfür nicht an (§ 233 Satz 2 AO).