Ende des subjektiven Fehlerbegriffs?

09.10.2019

Falsch ist falsch? Mitnichten. „Eine Abbildung im Jahresabschluss ist nur dann fehlerhaft, wenn sie anzuwendenden Rechtsnormen widerspricht und es dem Rechnungslegenden objektiv möglich war, dies zu erkennen.“ So oder so ähnlich lautet das weit verbreitete Meinungsbild in Schrifttum und handelsrechtlicher Bilanzierungspraxis. Diese Rechtsansicht wird nun durch eine bemerkenswerte Entscheidung des OLG Frankfurt am Main zum Fehler im Enforcement-Verfahren auf den Kopf gestellt.

 

Mit Beschluss vom 4. Februar 2019 (WpÜG 3/16, WpÜG 4/16) beendete der Wertpapiererwerbs- und Übernahmesenat des OLG Frankfurt am Main einen Rechtsstreit zwischen einer im MDAX gelisteten Verlagsgruppe mit Sitz in Berlin und der BaFin. Im Kern ging es um einen im Rahmen eines Enforcement-Verfahrens durch die BaFin erlassenen Fehlerfeststellungsbescheid, gegen den sich die klagende Verlagsgruppe teilweise erfolgreich zur Wehr setzte. Der Senat entschied jedoch nicht nur ausführlich in der strittigen Rechtssache. Er bezog vielmehr im Zuge dessen auch hinsichtlich des handelsrechtlichen Fehlerbegriffs überraschend deutlich Stellung.

Was ist das Enforcement-Verfahren?

Das im Jahr 2004 mit dem Bilanzkontrollgesetz (BilKoG) in Deutschland eingeführte Enforcement-Verfahren soll das Vertrauen der Anleger in die Richtigkeit und Qualität der publizierten Finanzinformationen kapitalmarktorientierter Unternehmen erhöhen. Dazu dient ein zweistufiges Prüfverfahren: Auf der ersten Stufe wird eine privatrechtlich organisierte, aber gesetzlich legitimierte (§ 342b Abs. 1 HGB) Organisation, die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung e. V. (DPR), tätig. Stichprobenartig und anlassbezogen prüft sie in Kooperation mit den betroffenen Unternehmen deren Finanzberichterstattung. Weigert sich das Unternehmen an der Prüfung mitzuwirken oder akzeptiert es das Prüfungsergebnis nicht, wird das Verfahren auf der zweiten Stufe von der – nun mit hoheitlichen Zwangsmitteln ausgestatteten – BaFin weitergeführt.

 

Über im Rahmen des Prüfverfahrens festgestellte Fehler muss das Unternehmen den Kapitalmarkt informieren. Auf Anordnung durch die BaFin nimmt das Unternehmen im Regelfall eine Bekanntmachung im elektronischen Bundesanzeiger vor. Ist das betroffene Unternehmen mit der Fehlerfeststellung jedoch nicht einverstanden, kann es, wie im vorliegenden Fall geschehen, Beschwerde beim OLG Frankfurt einlegen.

Worum ging es im konkreten Fall?

Die BaFin befand, dass der Konzernabschluss zum 31.12.2012 des geprüften Unternehmens in vier Punkten fehlerhaft sei. Sie erließ diesbezüglich gemäß § 37q Abs. 1 WpHG a. F. (§ 109 Abs. 1 WpHG n.F.) einen Fehlerfeststellungsbescheid. Da sich in der Kommentarliteratur für nahezu alle von der bilanzierenden Gesellschaft gewählten und nun strittigen Bilanzansätze mehr oder weniger „gute Gründe“ finden ließen, schmolz die vom OLG Frankfurt zu treffende Entscheidung im Kern auf eine Frage zusammen: Wie ist ein Fehler im Enforcement-Verfahren definiert?

Objektiver vs. subjektiver Fehlerbegriff

Die Frage, was ein Fehler ist, kann durch zwei konkurrierende Ansichten beantwortet werden – dem subjektiven und dem objektiven Fehlerbegriff. Der subjektive Fehlerbegriff stellt nicht nur auf das Vorhandensein einer objektiv richtigen Rechtslage ab. Sondern er bezieht auch und insbesondere die Frage ein, ob der Bilanzierende unter einer Gesamtwürdigung aller Umstände hätte erkennen können, dass der von ihm gewählte Bilanzansatz unrichtig ist. Nur dann, wenn der gewählte Bilanzansatz aus Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Kaufmanns nicht vertretbar ist, stellt er einen Fehler dar. Im Ergebnis kann also ein und derselbe Sachverhalt im Abschluss grundsätzlich auf mehrere Arten fehlerfrei dargestellt werden.

 

Dementgegen steht der objektive Fehlerbegriff. Nach diesem ist jede Abweichung von der objektiven Rechtslage fehlerhaft. Und zwar unabhängig davon, ob die Rechtslage zum Zeitpunkt der Aufstellung des Jahresabschlusses geklärt war oder eine auslegungsbedürftige Regelungslücke vorlag.

 

Für die Steuerbilanz ist seit der BFH-Entscheidung vom 31. Januar 2013 (GrS 1/10) klar: Zumindest für die Beurteilung von rechtlichen Fragen ist ein objektiver Maßstab zugrunde zu legen ist. Obwohl der BFH hiermit in Abkehr seiner früheren Rechtsauffassung, nach der er sehr wohl dem subjektiven Fehlerbegriff einiges an Gewicht zumaß, eindeutig für den objektiven Fehlerbegriff Position bezog, hielten weite Teile der Literaturmeinung und der Praxis für handelsbilanzielle Zwecke am subjektiven Fehlerbegriff fest.

Entscheidung des OLG Frankfurt am Main

Umso einschneidender ist nun die Entscheidung des OLG Frankfurt am Main: „Für die Frage der Fehlerhaftigkeit der Rechnungslegung hat sie [die BaFin] vielmehr grundsätzlich die objektiv richtige Rechtslage zugrunde zu legen“, heißt es in einem der vier amtlichen Leitsätze.

 

Der erkennende Senat kommt also zu dem Schluss, dass im Enforcement-Verfahren für die Rechnungslegung sowohl nach HGB als auch nach IFRS allein der objektive Fehlerbegriff maßgeblich ist. Als nationaler Durchsetzungsbehörde obliege es zunächst der BaFin und im Streitfall den Gerichten, Rechnungslegungsvorschriften auszulegen.

Was bedeutet das für die Praxis?

So deutlich das OLG Frankfurt Stellung bezog, so vielfältig sind die dadurch aufgeworfenen Fragestellungen. Sowohl in der Rechnungslegung nach HGB als auch nach IFRS bestehen zahlreiche auslegungsbedürftige Rechtsnormen. Selbst wenn der Bilanzierende einen nach Abwägung aller Umständen vertretbaren Ansatz wählt, ist er nicht davor geschützt, durch die Bilanzkontrolle öffentlich als Falschbilanzierer enttarnt zu werden. Ist es ihm also überhaupt noch möglich, einen mit Sicherheit richtigen Abschluss aufzustellen?

 

Darüber hinaus liegt bei einer Fehlerfeststellung im Rahmen des Enforcement-Verfahrens die Vermutung nahe, dass der Abschlussprüfer pflichtwidrig gehandelt hat. Dieser Schluss findet auch im Gesetz Niederschlag: Nach § 110 Abs. 2 Satz 1 WpHG sind entsprechende Tatsachen an die Abschlussprüferaufsichtsstelle (APAS) zu melden. Dies ist so auch im vorliegenden Fall geschehen. Gleichwohl stellte die daraufhin tätig gewordene Wirtschaftsprüferkammer keine schwerwiegenden Pflichtverletzungen des verantwortlichen Abschlussprüfers fest. Das wegen den vier strittigen Punkten eingeleitete berufsrechtliche Verfahren endete mit zwei Hinweisen.

 

Dies liegt auch daran, dass im Rahmen der Abschlussprüfung ein eher subjektiver Fehlerbegriff angewandt wird. Weder steht es dem Abschlussprüfer zu, eine strittige Norm rechtsentwickelnd auszulegen, noch gibt es im Rahmen der Abschlussprüfung eine (gerichtliche) Instanz, die dies dürfte. Letztendlich wird sich die am Kapitalmarkt interessierte Öffentlichkeit also darauf einstellen müssen, dass es für den handelsrechtlichen Abschluss zwei verschiedene Fehlerbegriffe geben kann.